Digital Lernen: Aktiv werden, mitmachen, nachfragen
21.06.2021
Vom Mehrwert digitaler Medien und warum man einer Vorlesung nicht nur zuhören sollte: Interview mit dem Lernpsychologen Frank Fischer.
21.06.2021
Vom Mehrwert digitaler Medien und warum man einer Vorlesung nicht nur zuhören sollte: Interview mit dem Lernpsychologen Frank Fischer.
Frank Fischer ist Inhaber des Lehrstuhls für Empirische Pädagogik und Pädagogische Psychologie an der LMU. Im Interview erklärt der Lernforscher, wie digitale Bildung gut funktioniert, vor welche besonderen Herausforderungen sie Lehrkräfte und Lernende stellt und warum manche beim Onlinelernen den Anschluss verlieren.
Wie verändert sich Unterricht beim digitalen Lernen? Lässt er sich eins zu eins aus dem Klassenzimmer übertragen?
Frank Fischer: Wenn der Unterricht vorher sehr stark frontal orientiert war, kann man das versuchen, aber man wird wahrscheinlich die 25 Lernenden, die vorher im Klassenzimmer saßen und jetzt zuhause sind, nicht sehr lange damit fesseln. Im klassischen Frontalunterrichtsszenario spricht einer oder eine vorne und die anderen hören zu.
In Deutschland dominierend ist ja ein fragend-entwickelnder Unterricht. Die Lehrkraft stellt Fragen, die Schülerinnen und Schüler antworten, und die Lehrkraft bewertet die Antworten. Das ist ein sehr stark lehrergesteuerter Vorgang. Diese Art des Unterrichts eins zu eins ins Digitale zu übertragen ist riskant. Und es ist, wenn es um die Vermittlung von Kompetenzen geht, auch nicht zielführend.
Gut gemachte Erklärungen von Lehrkräften können Wunder wirken. Aber sie reichen nicht aus, um komplexere Fähigkeiten zu erwerben.Prof. Frank Fischer
Warum nicht? Was ist falsch am frontalen Unterricht?
Der Frontalvortrag ist eine kulturelle Errungenschaft – einer spricht, alle hören zu und viele nehmen auch etwas mit. Gut gemachte Erklärungen von Lehrkräften können Wunder wirken. Aber sie reichen nicht aus, um komplexere Fähigkeiten zu erwerben.
Mit einem Vortrag allein kann man keine Problemlösefähigkeiten fördern – weder in der Schule noch an Universitäten. Das heißt nicht, dass man nicht strukturiert neues Wissen anlegen kann, aber es muss eben noch etwas dazukommen, wenn es später um die Frage geht, ob das Wissen auch angewendet werden kann. Dafür spielt die Eigenaktivität von Lernenden eine sehr wichtige Rolle. Sie müssen sich beim Lernen selbst etwas erarbeiten, eigene Überlegungen einbringen, Probleme lösen. Das können sie zum Beispiel bei Aufgaben machen, für die sie etwas vergleichen oder bewerten sollen.
Ein Hauptproblem in der Coronasituation – neben der wackligen Internetverbindung – sind die fehlenden Selbststeuerungsfähigkeiten der Lernenden zuhause. Sie haben Probleme, sich realistische Lernziele zu stecken und ihr Lernen selbst zu organisieren.Prof. Frank Fischer
Klappt das mit digitalen Mitteln, diese Kompetenzen zu fördern?
Darin liegt ein wichtiger Mehrwert der digitalen Medien. Beim digitalen Lernen kann diese Eigenaktivität zum Beispiel einschließen, dass ich mir noch andere, vielleicht sogar bessere Erklärungen auf Youtube zur Thematik suche oder ein Online-Lernspiel, bei dem ich Probleme löse und direktes Feedback bekomme. Die Zeit der Lehrkraft als einzige Wissensquelle ist vorbei.
Digitale Medien können Lernmöglichkeiten schaffen, bei denen Wissen auch angewendet wird und die Lernenden darauf Feedback bekommen – etwa durch adaptive Technologien oder dadurch, dass sich Lernende digital mit anderen zusammenschließen, die an einem ähnlichen Problem arbeiten.
Eine Herausforderung beim digitalen Lehren und Lernen ist jedoch, dass das nicht allen gleich gut gelingt. Bei unserer aktuellen Befragungsstudie zur digitalen Bildung an Schulen haben Lehrkräfte und Eltern angegeben, dass ein Hauptproblem in der Coronasituation – neben der wackligen Internetverbindung – die fehlenden Selbststeuerungsfähigkeiten der Lernenden zuhause sind. Sie haben Probleme, sich realistische Lernziele zu stecken und ihr Lernen selbst zu organisieren.
Können da nicht die Lehrkräfte helfen?
Es ist eine wichtige Kompetenz von Lehrkräften, dass sie die unterschiedlichen Lernprozesse ihrer Schülerinnen und Schüler orchestrieren können. Zu sehen: Da ist jemand, der lernt gut selbstgesteuert und hat ganz andere Fragen als ein anderer, der gar nicht weiß, wo er anfangen soll, und eine ganz andere Art von Unterstützung braucht. Im Klassenzimmer sehen das viele Lehrkräfte direkt.
Jetzt in der Onlinesituation, wenn die Lehrkraft das nicht erfragt oder beobachtet, fällt erst sehr viel später auf, dass man jemanden sozusagen abgehängt hat. Das gilt nicht nur für Jüngere in der Schule, auch an den Hochschulen gibt es sehr große Unterschiede darin, wie gut sich Studierende beim Lernen selbst strukturieren können und wie viel Strukturangebot sie zusätzlich benötigen.
Wenn Lehrkräfte zu viele Aufgaben geben und lange nicht hinschauen, dann tun sich große Unterschiede bei den Lernenden auf.Prof. Frank Fischer
Wie könnte man Hilfestellung geben, sodass junge Menschen diese Selbststeuerungsfähigkeit erwerben?
Es fängt in der Schule an. Eine der großen Schwierigkeiten dort ist das sogenannte Pacing: Wie lange braucht man für eine Aufgabe? Wenn Schüler alleine sind, fehlt ihnen oft das Gefühl dafür, wie viel Zeit sie sich für eine einzelne Aufgabe nehmen können, sie haben ja mehrere davon. Es ist eine metakognitive Fähigkeit, darüber Bescheid zu wissen, wie man Aufgaben angeht. Das haben viele Schülerinnen und Schüler relativ lang im Schulprozess nicht.
Lehrkräfte können hier gut helfen, indem sie Vorgaben machen, in welchem Zeitrahmen Schüler eine Aufgabe schaffen sollten, und anbieten, dass sich die Schüler bei ihnen melden können, wenn sie zu lange brauchen. Wenn Lehrkräfte zu viele Aufgaben geben und lange nicht hinschauen, dann tun sich große Unterschiede bei den Lernenden auf.
Das heißt, Anleitung und Feedback sind ganz entscheidend beim digitalen Lernen?
Ja, wie auch überhaupt beim Lernen. Die Möglichkeiten, die Digitalisierung hier bietet, werden noch nicht ausgeschöpft.
Momentan wird viel über den Einsatz von Künstlicher Intelligenz geforscht, um das Verhalten von Lernenden zu analysieren und Feedback zu geben – nicht an die Schüler, dafür ist die Diagnostik noch nicht gut genug, aber um den Lehrkräften Informationen aggregiert zur Verfügung zu stellen. Damit diese zum Beispiel sehen, dass manche Kleingruppen nicht zum Thema arbeiten oder manche Lernende ihre Arbeiten immer nachts hochladen. Solche Informationen können ein Anlass sein, mit den Lernenden ins Gespräch zu kommen und sie zu unterstützen.
Es zeigt sich inzwischen, dass die klassischen Strategien, selbstgesteuertes Lernen zu vermitteln, für den Online-Kontext nicht ausreichend sind. Beim digitalen Lernen hat man typischerweise eine Vielfalt von Angeboten, die nicht bewertet sind. Hier Strategien des eigenständigen Lernens zu vermitteln, hat eine fachspezifische Komponente.
Ich muss als Lehrkraft den Lernenden Hilfestellung geben, wie sie in einem bestimmten Fach verlässliche Quellen von nicht so verlässlichen unterscheiden können, und das auch digital einüben, mir berichten lassen, wie die Lernenden vorgehen, und ihnen gezielt Rückmeldung geben.
Welche Kompetenzen benötigen Lehrkräfte zur Unterstützung digitalen Lernens – und wer vermittelt sie?
Lehrkräfte an Schulen und Universitäten brauchen hierfür professionelle medienbezogene Lehrkompetenzen, die über die allgemeine Medienkompetenz hinausgehen. Zum Beispiel sollten Lehrkräfte nicht nur in der Lage sein, digitale Medien so einzusetzen, dass Lehrziele erreicht werden, sondern sie sollten auch Unterricht mit digitalen Medien evaluieren und dann entsprechend umgestalten können. Auch das Dokumentieren und Weitergeben erfolgreicher digitaler Unterrichtsaktivitäten spielt eine zunehmende Rolle.
Hierzu gibt es schon interessante Modelle, zum Beispiel für die Lehrerbildung, an denen verschiedene Fächer, Fachdidaktiken sowie Psychologie und Pädagogik gemeinsam arbeiten. Aber in der Umsetzung – von der Weiterbildung der Dozierenden an Hochschulen und im Referendariat bis zur Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern im Schuldienst – da stehen wir erst am Anfang.
An den Universitäten bewerten Studierende Vorlesungen gut, die in Segmente von 20, 30 Minuten aufgeteilt sind und nicht als 90-Minuten-Klotz gehalten werden.Prof. Frank Fischer
Welche zeitliche Struktur ist beim digitalen Lernen sinnvoll?
Das hängt von der Veranstaltungsform ab. Bei dozentengesteuertem Unterricht ist es gut, mit Pausen zu arbeiten, die Phasen des Erklärens und Vortragens nicht zu lang werden zu lassen. An den Universitäten bewerten Studierende Vorlesungen gut, die in Segmente von 20, 30 Minuten aufgeteilt sind und nicht als 90-Minuten-Klotz gehalten werden.
Man kann Lernende zwischendurch gut aktivieren, sie zum Beispiel einen Inhalt, den man gerade erklärt hat, nochmal abfragen, kleine Tests machen, in Audience-Response-Systemen kurze Umfragen machen oder die Möglichkeit anbieten zu diskutieren. Das wäre interaktives Lernen.
Und konstruktives Lernen wäre zum Beispiel zu sagen: Jetzt habe ich das Konzept X erklärt, gebt mir mal Beispiele dazu. Das passt immer in einen 45- oder 90-Minuten-Slot.
Wo hat digitales Lernen seine Grenzen?
Wir wissen zum Beispiel noch nicht, wie lange das digitale Lernen und Miteinander gut funktionieren kann. Es gibt aufgrund der Corona-bedingten Beschränkungen Studierende, die diese Uni noch nie von innen gesehen haben. Wir wissen noch nicht, welche Folgen das hat und was man im Nachhinein womöglich kompensieren muss. Ich glaube, dass die Sozialisationsprozesse, die in Bildungsinstitutionen auch stattfinden, momentan sehr viel schwieriger sind. Inhalte und Methoden lernen ist das eine. Aber Journalistin oder Psychologin zu werden, ist das andere. Wie wird man das? Was ist dabei der universitäre Anteil, was das Rollenverständnis?
Prozesse, die normalerweise beiläufig stattfinden, muss man digital viel expliziter machen, zum Beispiel Kamingespräche digital organisieren, die sonst zufällig stattfinden. Und was auch viel schwieriger digital zu vermitteln ist, sind Themen, bei denen auch die Lehrenden die Antwort noch nicht kennen.
In vielen anderen Bereichen können wir meines Erachtens die Obergrenzen derzeit noch nicht abschätzen – hier werden viele neue Lerngelegenheiten an Schulen und Hochschulen entstehen, wenn man etwa an den Einsatz von Simulationen und Künstlicher Intelligenz denkt.
Eine gerade erschienene Metaanalyse zeigt, dass Simulationen zu den effektivsten Formen des Lehrens und Lernens an der Hochschule gehören.
Lernende, die Hilfe am dringendsten brauchen, fragen am wenigsten nach ihr.Prof. Frank Fischer
Welche Empfehlung könnte man denn den Lernenden fürs digitale Lernen mitgeben? Lern mit anderen und frag nach, wenn du nicht zurechtkommst?
Ja, diese Tipps sind auch nicht neu entstanden in der digitalen Welt. Aber ein ganz wichtiger Befund zum selbstgesteuerten Lernen, der digital besonders gilt, ist: Lernende, die Hilfe am dringendsten brauchen, fragen am wenigsten nach ihr. Einer der Gründe dafür ist, dass Menschen, die wirklich wenig wissen und schlechte Lernvoraussetzungen haben, noch nicht einmal bemerken, dass sie eigentlich Hilfe bräuchten.
Ich sage meinen Studierenden immer, dass es sie alarmieren sollte, wenn sie den Eindruck haben, sie kommen völlig klar. Versuche, dir als Lernender auch ein Feedback dazu zu holen, wie du bei einer Aufgabe vorgegangen bist.
Und auf der kognitiven Ebene: Obwohl es echt gemütlich ist, sich von einer Vorlesung berieseln zu lassen: Wenn man sie sich nur anhört und sonst nichts macht, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass man das so gelernte Wissen später auch anwenden kann. Du lernst besser, wenn du etwas eigenständig machst – und sei es nur, dir Notizen zu machen. Idealerweise engagiere dich, bringe deine eigenen Überlegungen ein. Und wenn dir deine Lehrkraft diese Aufgaben nicht gibt, dann denke sie dir selber aus.
Das kann man auch mit anderen gemeinsam machen. Aber Vorsicht: Man hat häufig in Gruppen die Situation, dass nur ein oder zwei Leute aktiv sind und die anderen passiv. Dann ist die Lehrkraft die bessere Alternative, weil sie besser erklären kann. Wenn ein Dozent nur sagt, jetzt geht mal in Kleingruppen und diskutiert, dann sollte euch das skeptisch machen.
Dazu noch ein Tipp: Wenn ihr in Gruppen lernt, denkt euch eine gute Struktur aus. Fragt eure Lehrkraft, wie ihr die Gruppe so strukturieren könnt, dass wirklich alle etwas davon haben. Überlegt euch, was ihr schon könnt, was es für Rollen in eurem Lernstück gibt, und macht euch Gedanken, denkt euch einen Plot aus, sodass jeder etwas mitnimmt und sich konstruktiv und interaktiv engagieren kann.
Es wird ja diskutiert, Lernende seien in den vergangenen Monaten des digitalen Unterrichts um Monate zurückgefallen. Stimmt das?
Wenn man sieht, wie sich an den Schulen und Hochschulen alle abrackern und bemühen – das kann eigentlich nicht sein, dass sie dabei nichts lernen, oder? Wir Menschen fangen an zu lernen, wenn wir die Augen aufschlagen, und genau genommen lernen wir auch noch weiter, wenn wir sie zu haben und schlafen.
Die Frage ist daher eher: Was haben Schülerinnen und Schüler oder auch Studierende gelernt und was ist zu kurz gekommen. Und natürlich die Frage, bei welchen Lernenden besondere Schwierigkeiten aufgetreten sind und wie diese Lernenden gezielt unterstützt werden können. An meinem Lehrstuhl sind wir gerade an Studien beteiligt, um herauszufinden, welche Kompetenzen während der Coronapandemie nicht vermittelt werden konnten und welche vielleicht sogar besser, zum Beispiel medienbezogene, die man sonst nicht im Blick hatte.
Ich denke, da kann es noch Überraschungen geben, wo Bildungsdefizite aufgetreten sind, aber auch, wo sich neue Bildungschancen aufgetan haben.
Digitale Bildung: Empfehlungen aus der Lehr- und Lernforschung